Wir schreiben die 60er-Jahre und die Welt ist in Aufruhr. In Vietnam tobt der Krieg, Martin Luther King und John F. Kennedy werden ermordet, Studierende gehen auf die Barrikaden und fordern Frieden. Die Flower-Power- Bewegung ist im Aufschwung und Jimi Hendrix vereint die Menge auf dem Woodstock-Festival mit der US-Nationalhymne „The Star Spangled Banner“. In Westdeutschland endet nicht nur die Ära Adenauer. Während die erste Große Koalition der Bundesregierung in Kraft tritt, wird in Ostdeutschland der Grundstein für die Berliner Mauer gelegt.
Die Bundesrepublik blickt geschockt auf die Entwicklungen in der DDR, es weht ein Wind der Veränderung durch die westliche Welt. Der Ende der 50er-Jahre entstandene Wunsch nach einem gesellschaftlichen Umbruch wird immer stärker. Die Welle erfasst auch die BRD und althergebrachte Werte und Traditionen werden rigoros infrage gestellt. Die Möglichkeiten für Fortschritt und Entwicklung erscheinen grenzenlos. Die Bundesrepublik erlebt einen Aufschwung, bei dem das Motto „höher, schneller, weiter“ im Mittelpunkt aller Bemühungen steht. Selbst der Weltraum scheint auf einmal zum Greifen nah. Juri Gagarin fliegt als erster Mensch ins All, die Apollo 11 landet auf dem Mond und Boeing ermöglicht mit dem Bau des ersten Jumbo-Jets auch Privatpersonen einen Flug in den Himmel. Die westliche Welt erscheint frei und voller Chancen!
Wohnungsbau, Verkehr, Tourismus und Konsum lassen die Wirtschaft der Republik boomen. Doch es fehlt an Arbeitskräften, sodass nach dem erfolgreichen Anwerben italienischer Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen 1955 entsprechende Abkommen mit sieben weiteren Staaten geschlossen werden.
Mit im Gepäck haben die Gastarbeitenden ihre regionale Küche. Der deutsche Speiseplan war bis dahin von Kartoffeln, Fleisch, Kohlgemüse und Rüben geprägt, südeuropäische Grundnahrungsmittel wie Olivenöl, Nudeln, mediterranes Gemüse oder Knoblauch sind kaum zu finden. Durch die neuen kulturellen Einflüsse und den Reiseboom nach Südeuropa lernen immer mehr Deutsche neue Speisen und Getränke kennen. Italienische, spanische oder griechische Gerichte gelten innerhalb kürzester Zeit als exotisch, weltoffen und modern. Doch Ćevapčići, Pizza, Campari und Sliwowitz werden nicht nur beim neu eröffneten italienischen Restaurant oder im Balkan-Grill genossen, auch Frauenzeitschriften und Kochbücher greifen den Trend auf, um der „Frau von Welt“ zu Hause die Möglichkeit zu geben, die trendigen Gerichte für ihre Familie und Freunde zu kochen.Die bis dahin geltenden Geschlechterrollen verschwimmen nach und nach. Die Diskussion über die Bildung von Frauen und die Erfindung der Antibabypille ebnen den Weg für eine weitere Welle der Emanzipation. Ausbildung und Berufswahl werden Thema bei der Lebensplanung aller Geschlechter. Die Zeit für die Haushaltsführung wird dadurch knapper, sodass die zunehmende Technisierung durch Mixer, Toaster und Co. sowie der Boom von Fertigprodukten genau zur richtigen Zeit kommen.
Neben den schnell gemachten Klassikern wie „Fliegenpilzen“ aus Ei, Tomate und Mayonnaise, Nudelsalaten mit Miracel Whip, Kalter Hund oder Herrencreme erleichtern die neuen Produkte von Maggi, Dr. Oetker und Co. den Alltag ungemein. Die Liste der Helferlein wird immer länger und reicht von zeitsparender Tiefkühlkost über Sahnesteif und Dauerbackhefe bis hin zu Dosenravioli und Tütensuppe.
Während das Herrengedeck oder Asbach und Mariacron als „klare Braune“ noch immer hoch im Kurs stehen, ist auch eine neue Spirituose auf dem Vormarsch gen Westen: der Wodka. Durch seinen neutraleren Geschmack gewinnt er schnell an Beliebtheit und verdrängt die bisherigen charakterstarken Mix-Spirituosen wie Whiskey, Gin und Weinbrand. Seine Leichtigkeit und die exotische Anmutung passen perfekt zum Zeitgeist.